„Ich will eine Gesellschaft, in der alle die gleichen Chancen haben!“
Ein Rückblick auf das erste Jahr in der Großen Koalition und einen Ausblick auf die politische Arbeit in 2015 gebe ich in einem Interview mit der Onlineredaktion der Schülerzeitung „Brand(t)melder“ der Willy-Brandt-Gesamtschule Bergkamen. Wie in jedem Jahr erscheint dieses Interview auch in meinem Jahresbericht, der ab Januar 2015 in meinen Büros als gedrucktes Exemplar erhältlich ist.
Aus aktuellem Anlass: Wie sieht Ihre persönliche Bilanz 25 Jahre nach dem Mauerfall aus? Blühende Landschaft oder soziale Spaltung in Ossis und Wessis?
Oliver Kaczmarek: Schwer zu sagen, weil die soziale Spaltung nicht nur zwischen Ost und West verläuft, sondern auch zwischen Nord und Süd, da wir ja auch innerhalb des Westens große Unterschiede haben. Sorgen mache ich mir eher darum, dass die sozialen Verhältnisse sich polarisieren, dass Unterschiede zwischen Arm und Reich größer werden und die Mitte, die uns trägt in der Gesellschaft, dünner wird. Der Wegfall der Mauer ist hingegen für mich ein Zustand, den ich gar nicht mehr hinterfrage. Ich bin im Westen der Bundesrepublik groß geworden und ich habe die Wiedervereinigung als junger Erwachsener miterlebt. Ich kann mich auch erinnern, wie das Wochenende war, an dem die Mauer gefallen ist, das war ein Donnerstag, glaub ich, oder ein Freitag, da bin ich zu einem Juso Seminar gefahren. An diesem Tag wurde Geschichte gemacht. Für mich ist das aber mittlerweile ein total normaler Zustand, dass wir 16 Bundesländer haben. Deswegen frage ich auch nicht so sehr nach Ost und West. Für mich ist das mittlerweile selbstverständlich und es spielt auch nicht mehr so eine große Rolle.
Wie alt waren Sie beim Mauerfall?
Oliver Kaczmarek: 19, ich war noch in der Schule. 1990 hab ich Abitur gemacht, das war eine total spannende Zeit, da hat man noch die Demonstrationen mitbekommen im Fernsehen oder die Durchtrennung des eisernen Zauns zwischen Österreich und Ungarn, eine wirklich spannende Zeit. Und ich war halt beeindruckt, dass die Menschen so für Freiheit kämpften. Freiheit, die für uns heute so selbstverständlich ist.
Und Ihre erste Begegnung mit den „Ossis“? War das in der Schule oder in der Freizeit?
Oliver Kaczmarek: Das war über die SPD vermittelt, ich hatte keine Verwandten in der DDR, und für mich war das alles recht fern, fast wie Ausland. Kurz vor dem 3. Oktober 1990 traf ich dann den Bürgermeister von Beeskow, der Partnerstadt von Kamen. Es war sehr interessant, in eine Gegend zu kommen, die ganz anders war, die Leute sahen ganz anders aus, aber sprachen dieselbe Sprache.
Nun zu den Europawahlen 2014: Die Sozialdemokraten konnten sich ja leicht verbessern, die CDU aber auch; wie beurteilen Sie die aktuelle Rolle der Sozialdemokraten in Europa?
Oliver Kaczmarek: Wir hätten uns gerne national auch in den Europawahlen ein besseres Ergebnis gewünscht. Wenn wir uns das Ergebnis bei den Europawahlen angucken, ist es entscheidend zu wissen, wie das im Ganzen zusammengesetzt ist. Die Sozialdemokraten haben in den verschiedenen Ländern unterschiedliche Wahlergebnisse erreicht, in Deutschland haben wir 6% zugelegt, sind aber hinter der CDU gelandet, das war nicht so schön. Wir sind aber dennoch die zweitstärkste Macht im Europaparlament, wir haben eine wichtige Verantwortung. Um dieser Verantwortung gerecht zu werden, kooperieren wir auch mit anderen Parteien, z.B. als wir den Kommissionspräsidenten gewählt haben, und das ist wichtig, weil ja auch viele Gegner Europas im Europäischen Parlament sitzen.
Welche konkreten Themen fallen in Ihren Aufgabenbereich und wie gestaltet sich Ihr Tagesablauf in Berlin?
Oliver Kaczmarek: Ich bin stellvertretender bildungs- und forschungspolitischer Sprecher der SPD Fraktion. So bin ich für Hochschulpolitik zuständig. Ich kümmere mich zudem um Analphabetismus. Das zweite Standbein meiner Themen in Berlin ist der Vorsitz der deutsch-belarussischen Parlamentariergruppe. Das ist eine Gruppe von Bundestagsabgeordneten, die sich um das Verhältnis von Deutschland und Weißrussland kümmert.
Mein Tagesablauf sieht wie folgt aus: Ich gehe morgens etwa um 8 Uhr ins Büro und gehe abends ungefähr um 22 Uhr nach Hause. Dazwischen muss ich zu Sitzungen und Gremiensitzungen. Abends bleibe ich manchmal im Büro, um meine Post zu lesen und um mich fortzubilden.
Wie gelingt es Ihnen, Ihren Politikeralltag mit dem Familienleben zu vereinbaren?
Oliver Kaczmarek: Das klappt nur, weil meine Familie das so kennt. Meine Familie kennt das durch meine Tätigkeit auch vor der Zeit im Bundestag. Da war ich schon politisch sehr aktiv, nur bin ich tagsüber arbeiten gegangen und bin abends nach Hause gefahren. Anschließend bin ich dann zu Parteisitzungen oder anderen Veranstaltungen gefahren, die abends stattfanden. Wenn meine Familie damit nicht einverstanden wäre, könnte ich das kaum machen. Wir nehmen uns bewusst Pausen, in denen nicht über Politik gesprochen wird. Als Ausgleich fahren wir außerdem öfter in den Urlaub, diese Zeiten sind besonders wichtig für uns.
Wie haben 5 Jahre Mitgliedschaft im deutschen Bundestag Ihre Perspektive auf das politische Geschäft in Berlin verändert?
Oliver Kaczmarek: Ich verstehe nun, wie alles so funktioniert im politischen Berlin. Man muss sich Gedanken darüber machen, wie man sich einbringen kann, welcher Weg der effizienteste ist, um sein Anliegen einzubringen. Es hat schon meine Perspektive etwas verändert und übrigens auch meine Wertschätzung für die Leute, die das ehrenamtlich z.B. im Stadtrat oder Kreistag machen. Die müssen Beruf, Familie und politisches Engagement unter teilweise schwierigeren Rahmenbedingungen kombinieren.
2. Teil „Ausblick“
Die Welt ist turbulenter geworden, welche Krisen bzw. politischen Ereignisse bereiten Ihnen aktuell die größten Sorgen, worin sehen Sie aktuell die größte politische Herausforderung?
Oliver Kaczmarek: Die größte Sorge bereitet mir momentan die Situation in Europa. Dass Risse zwischen der Europäischen Union und Russland entstanden sind. Die Frage, wie wir mit Russland umgehen, ist sehr wichtig für mich.
Die IS-Terroristen bereiten mir auch große Sorgen. Die momentane Lage, die auftauchenden Videos etc. machen mir Angst. Die Situation dort wird immer radikaler. Deshalb haben wir auch im Bundestag über die Waffenlieferung an die Kurden abgestimmt. Außerdem müssen wir die Situation aus mehreren Perspektiven betrachten. International betrachtet müssen wir gewährleisten, dass Staatlichkeit und Demokratie respektiert werden und dass für die Sicherheit der Menschen gesorgt wird. Wir wollen den Leuten dort helfen, die Zivilbevölkerung schützen.
Die Menschen sind tief besorgt angesichts der neuen Eiszeit zwischen den alten Supermächten. Gorbatschow hat sich in Berlin kritisch gegenüber der Nachwendepolitik des Westens und dessen Ukrainepolitik geäußert! Brauchen wir erneut eine Politik des Wandels durch Annäherung?
Oliver Kaczmarek: Fakt ist, wir haben in der Ost-Ukraine selbst ernannte Regierungen, die nicht durch demokratische Wahlen legitimiert sind. Außerdem haben wir Informationen, dass über die grüne Grenze immer noch Waffen in die Ukraine geliefert werden. Das ist ein großes Problem, wo die Weltgemeinschaft auch sagen muss: das machen wir nicht mit. Deshalb die Sanktionen. Ohne Frage gilt aber auch, dass es ohne Russland in Europa keinen dauerhaften Frieden geben wird. Es ist echt ein sehr wichtiges, schwieriges Thema. Aber natürlich: „Wandel durch Annäherung“ ist das bekannte Zitat von Willy Brandt und tatsächlich werden wir einen Wandel der Beziehungen nur erreichen, wenn wir uns auch wieder einander annähern.
Jetzt ist Träumen erlaubt: Welche Ziele würden Sie als Politiker gerne noch erreichen und welche Ämter fänden Sie noch spannend?
Oliver Kaczmarek: Ich möchte für meine Region Ziele erreichen, z.B. dass wir hier nicht abgehängt werden. Ich möchte, dass hier die jungen Menschen, die eine Ausbildung machen wollen, auch einen Ausbildungsplatz finden. Weil ich das für ganz wichtig halte, dass man nach der Schule eben auch arbeiten kann. Ich möchte, dass unsere Städte auch in der Lage sind zu investieren, dass die Schulen in Ordnung sind, die Straßen und das alles. Das sind meine Themen und ich träume halt von einer Gesellschaft, in der alle Menschen gleiche Chancen haben. Unabhängig davon, was ihre Eltern besitzen, welcher Religion sie angehören, ob sie Mann oder Frau sind, all diese Dinge sind der Antrieb, warum ich Politik mache. Ich stelle in meinem Alltag immer noch fest, dass es teilweise noch Ungerechtigkeit gibt. Es geht uns gut, wir leben im Wohlstand, völlig klar! Aber ich stelle auch fest, dass nicht alle die gleichen Chancen haben, das ist das, woran ich arbeite.
Mit der Frage, welche Ämter ich noch spannend fände, tue ich mich immer etwas schwer, ich bin jetzt auf einer bestimmten Stufe angekommen als Parlamentarier und Vorsitzender der SPD im Kreis Unna, als Mitglied im Landesvorstand und im Fraktionsvorstand, und man muss auch beachten, dass man die Anzahl der Ämter im Griff behält. Man darf nicht zu viel machen. Ich glaube, wenn man seine Arbeit gut macht, wird man auch mehr Verantwortung bekommen, was jetzt noch kommt, werden wir noch sehen. Deswegen habe ich jetzt nicht das Ziel, ich will Minister oder, oder, oder werden. Aber ich will schon noch etwas bewegen, ich möchte in meiner Fraktion noch etwas erreichen.
Die abschließende Frage ist: Können Sie sich nach all den Jahren in Berlin noch einen normalen Job vorstellen?
Oliver Kaczmarek: Ja! Ich habe mit meinem alten Arbeitskollegen noch gelegentlichen Kontakt und ich interessiere mich auch, wie es so in meiner Behörde ist, wer welche Positionen erreicht, wer da neu ist, was die so machen. Irgendwann werde ich was anderes machen, weil ich das hier im Bundestag nicht machen werde, bis ich tot umfalle. Im Moment ist noch nicht der Zeitpunkt, im Moment ist es toll, aber irgendwann wird man sich auf etwas anderes einstellen. Politiker wird man ja auch mit Ideen davon, was man machen will, erreichen will und vielleicht hat man das auch irgendwann erreicht, und dann kann man auch für andere Platz machen. Aber wie gesagt, im Moment habe ich noch viele gute Ideen und eine Menge Motivation.
Das ist doch ein schönes Schlusswort. Ich fand es sehr spannend, was Sie uns zu sagen hatten. Wir bedanken uns für die Zeit, die Sie sich für uns genommen haben.
Oliver Kaczmarek: Danke, dass ich hier sein durfte, und wir wollen ja auch etwas für unseren Jahresbericht, deswegen fand ich das ganz besonders gut, dass auch Sie sich die Zeit genommen haben.