Tschernobyl darf nie vergessen werden! – Bericht von einer Reise in die Ukraine
Auch 26 Jahre nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl ist es wichtig, an die Opfer und die Betroffenen zu erinnern. Das war auch das Ziel einer Dienstreise in die Ukraine, die ich am vergangenen Wochenende zusammen mit meinem Hagener Kollegen René Röspel absolviert habe. Im Mittelpunkt stand dabei die Gesichte und die derzeitige Lage der Liquidatoren, die beim Reaktorbrand und bei den Sicherungsarbeiten im havarierten Atomkraftwerk und in der Umgebung eingesetzt wurden.
Ich kann mich noch an die Fernsehbilder vor 26 Jahren erinnern, auf denen zu sehen war, wie Menschen im Laufschritt eine Minute lang in rasender Geschwindigkeit Sand in den brennenden Reaktor schütteten oder Schutt wegräumten. Mit dieser Arbeit haben sie dazu
beigetragen, dass die Reaktorkatastrophe sich nicht noch weiter über Europa ausbreiten konnte. Die Liquidatoren werden daher auch zu Recht die Retter Europas genannt. Ihnen ist ein Teil der Ausstellung „Tschernobyl: Menschen – Orte – Solidarität“ gewidmet, die im letzten Jahr auch in Kamen gezeigt wurde. Der Wunsch der Liquidatoren war, diese Ausstellung zu übersetzen und auch in Belarus und in der Ukraine zu zeigen. So soll auch in diesen Ländern an die Katastrophe und an die Opfer und Betroffenen erinnert werden, die heute oftmals ihre Ansprüche an Rente und medizinische Versorgung in ihren Heimatländern nicht erfüllt bekommen. Deshalb war auch die Eröffnung der Ausstellung in Kiew die erste Station der Dienstreise. Dort habe ich folgende Rede zur Eröffnung gehalten:
Sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete der Verchowna Rada,
sehr geehrter Herr Botschafter Dr. Heimsoeth,
sehr geehrter Herr Gouverneur Prisanschnjuk,
lieber Peter Junge-Wentrup,
sehr geehrte Damen und Herren,herzlichen Dank auch im Namen meines Kollegen René Röspel für die Einladung zur Eröffnung der Ausstellung „Tschernobyl: Men-schen, Orte, Solidarität“ und für die Gelegenheit, als Mitglieder des Deutschen Bundestages einige Worte an Sie richten zu können.
In diesen Tagen werden in ganz Europa zahlreiche Aktivitäten stattfinden, die an die Katastrophe von Tschernobyl vor 26 Jahren erinnern werden. Sie erinnern an die größte Technikkatastrophe in der europäischen Geschichte, an die Opfer und an die vielen Liquidatoren, Ärzte und Freiwillige, die sich gegen die Katastrophe gestemmt haben. Getragen werden diese Aktivitäten von Menschen, die sich im Ehrenamt bis heute für die Tschernobyl-Hilfe engagieren. Diese Menschen sorgen dafür, dass Tschernobyl nicht vergessen wird. Sie helfen ganz konkret in den Städten und Dörfern in der Ukraine und Belarus, die bis heute betroffen sind. Sie sind die Gründer der größten europäischen Solidaritätsbewegung! Diesen Menschen in ganz Europa gilt unser besonderer Dank für ihr großes Engagement. Tschernobyl ist in Deutschland ein Ereignis, das die Politik verändert hat. Mein Kollege René Röspel und ich waren 1986 15 und 21 Jahre alt. Wir können uns noch gut daran erinnern, wie es damals zuerst hieß, es könne vielleicht einen Unglücksfall in einem sowjetischen Atomkraftwerk gegeben haben, wie sich die radioaktiven Niederschläge dann bis nach Deutschland ausgebreitet haben und wie zum Schluss klar wurde: hier hat sich eine unfassbare Katastrophe mit vielen Opfern und Betroffenen ereignet.
Ich erinnere mich noch an Fernsehbilder, auf denen Menschen im Laufschritt den Reaktorbrand zu löschen versuchten, Bauschutt räumten und später den Sarkophag errichteten. Ich habe erst später verstanden, dass sie sich einer unsichtbaren Gefahr ausgesetzt haben, nämlich der lebensgefährlichen radioaktiven Strahlung. Alle leiden noch heute daran. Viele sind mittlerweile an den Folgen dieses Einsatzes gestorben. Und doch wäre die Katastrophe ohne diese Männer und Frauen, so undenkbar das auch scheinen mag, noch schlimmer ausgefallen. Sie haben mit ihrem Einsatz größeren Schaden verhindert und damit auch ein weiteres Übergreifen auf ganz Europa. Ihre Arbeit hat Millionen Menschen in ganz Europa geschützt – auch mich ganz persönlich und meinen Kollegen René Röspel. Für diesen heldenhaften Einsatz sind wir ihnen zu tiefem Dank verpflichtet. Sie werden zu Recht die Retter Europas genannt.Es ist uns eine Ehre, dass wir morgen in Kharkiv die Gelegenheit haben werden, der Opfer am Denkmal für die Liquidatoren zu gedenken.
Für meinen Kollegen und mich war das Unglück von Tschernobyl auch der Zeitpunkt, wo unsere Haltung zur Atomenergie entschieden wurde. Deutschland ist in dieser Hinsicht einen anderen Weg als viele Staaten in Europa gegangen. Seit dem Jahr 2000 will Deutschland den Energiedurst ohne Atomenergie stillen. Seit Fukushima im letzten Jahr ist dieser Weg unumkehrbar und im Jahr 2022 wird das letzte Atomkraftwerk in Deutschland stillgelegt. Italien, Belgien, die Schweiz und Österreich steigen ebenfalls aus der Atomenergie aus oder sind schon ausgestiegen. Über 80% der Menschen in Deutschland stimmen dieser Politik zu.Es ist nun eine der größten politischen Aufgaben, Strom aus anderen Quellen produzieren zu können. Wegen des Klimawandels setzen wir dabei insbesondere auf Sonne, Wind und Wasser. Weit über 300.000 Menschen haben in diesen Bereichen in Deutschland bereits eine Arbeit gefunden. Fast 20 % des Energiebedarfs werden heute aus diesen Quellen gedeckt. Bis 2050 soll der Energiebedarf sollständig aus erneuerbaren Energien gedeckt werden.Deutschland hat das ehrgeizige Ziel, Industrienation ohne Atomkraft zu sein und sucht dabei die Zusammenarbeit mit allen Freunden in Europa. Wir setzen das Leitmotiv des IBB um: aus der Geschichte lernen. Deshalb ist der Atomausstieg für uns ein so wichtiges Thema.
Aus der Geschichte lernen heißt aber auch, die europäische Solidaritätsbewegung nach Tschernobyl zu unterstützen. Beispiellos ist das Engagement der vielen Tschernobyl-Gruppen in ganz Europa. Hier engagieren sich Menschen für Menschen. Sie tun dies aus Überzeugung und mit der Kraft des Ehrenamtes – besser als jeder Staat das organisieren könnte. Das verdient nicht nur die Anerkennung sondern auch die Unterstützung der Gemeinschaft. Und so ist es vor allem dem IBB zu verdanken, dass in Deutschland die vielen Tschernobyl-Gruppen immer wieder zusammenfinden und die Ausstellung, die wir heute eröffnen, auch in 49 Städten gezeigt werden konnte. Dem IBB gebührt daher auch heute ein ganz besonderer Dank für seine Arbeit.
Denn eines dürfen wir nicht vergessen: die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl hat sich vor 25 Jahren ereignet. Aber die Folgen sind immer noch aktuell. Wir dürfen Tschernobyl nie vergessen, weil wir die Opfer und die Betroffenen nicht vergessen dürfen. Sie leben auch 26 Jahre danach nicht nach, sondern mit Tschernobyl.Für uns ist es daher auch heute hier in Kiew und morgen in Kharkiv besonders wichtig, mit Menschen zu reden, die die Katastrophe miterlebt haben und die als Liquidatoren beteiligt waren. Wir wollen wissen, wie sie die Katastrophe erlebt haben und wie es ihnen heute geht. Es ist uns wichtig, alles das zu erfahren. So bleibt die Solidarität lebendig.
Unser Besuch als Mitglieder des Deutschen Bundestags soll daher auch ein Zeichen sein, dass die deutsche Politik Tschernobyl nicht vergisst und dass wir die Solidarität weiter unterstützen werden.
Vielen Dank für ihre Aufmerksamkeit.
Im weiteren Verlauf der Reise haben wir die Universitätsstadt Charkow im Osten der Ukraine besucht. Dort wird mit Hilfe des Internationalen Bildungs- und Begegnungswerks Dortmund eine Geschichtswerkstatt für die Liquidatoren eröffnet. Dort erhalten die Liquidatoren einen Ort, an dem sie sich austauschen , ihre Geschichte erzählen und aufbewahren, sich gegenseitig beraten und Ausstellungen zeigen können. Im Laufe der Zeit wird dort ein Treffpunkt entstehen, der die Aufarbeitung der Geschichte mit der Selbsthilfe der Liquidatoren verbindet.
Des Weiteren standen Kranzniederlegungen für die Opfer von Krieg und Faschismus sowie am Tschernobyl-Ehrenmal in Charkow auf dem Reiseprogramm, an der die Öffentlichkeit und die ukrainischen Medien zahlreich teilnahmen.
In den nächsten Tagen wird europaweit der Opfer der Reaktorkatastrophe gedacht. Am 26. April, dem 26. Jahrestag der Katastrophe von Tschernobyl, finden in zahlreichen Städten Europas Kerzenaktionen zur Erinnerung statt. Auch in Kamen wird von der Arbeiterwohlfahrt eine solche Aktion durchgeführt. Treffpunkt ist um 19 Uhr auf dem Alten Markt. Am 28. April um 14 Uhr wird dann im SportCentrum Kaiserau ein neues Mahnmal für die Tschernobyl-Opfer enthüllt. Im Anschluss werde ich ausführlich über meine Reise berichten. Damit gehört Kamen zu einem europäischen Netzwerk von 112 Städten in ganz Europa, die im Rahmen des Tschernobyl-Netzwerks solche Veranstaltungen durchführen. Ich hoffe, dass wir mit der Ausstellung im vergangenen Jahr einen Startschuss gesetzt haben, das Tschernobyl-Netzwerk dauerhaft in Kamen und im ganzen Kreis Unna enger zu knüpfen. Denn Tschernobyl darf auch bei uns nicht vergessen werden. Die Opfer müssen noch viele Jahrzehnte mit den Folgen von Tschernobyl leben.
Hier einige Impressionen von der Reise: